Zum Jubiläum 30 Jahre Deutschsprachige Evangelische Gemeinde Budapest
Am 1. Advent gedenkt unsere Gemeinde in der Budaer Burg ihres Gründungstages, der nunmehr 30 Jahre hinter uns liegt. Was sind schon dreißig Jahre? Und was ist Zeit überhaupt? Diese philosophische Frage hat schon Augustinus umgetrieben. Die Definition ist bis heute offen, sicher ist aber: Gottes und der Menschen Zeitbegriff sind, wie uns die Bibel lehrt, sehr verschieden. Wir schauen nun durch unser eigenes Zeitfenster auf das Gewesene zurück. Damals wurde ein Vertrag zwischen der Evangelischen Kirche in Deutschland und der Evangelisch-Lutherischen Kirche in Ungarn geschlossen. Der bisherige deutschsprachige Arbeitszweig der ungarischen evangelischen Gemeinde in der Budaer Burg wurde dadurch offiziell zu einer deutschsprachigen evangelischen Auslandsgemeinde erklärt, eine von der EKD getragene Gemeinde innerhalb der ungarischen evangelischen Kirche (ELKU), die weiterhin als Gast der ungarischen evangelischen Burggemeinde tätig ist. Damit begann ein Weg, den wir unter Gottes Führung und Hilfe sicher und unbesorgt bis zum heutigen Tage gehen konnten.
Ich schreibe diesen Beitrag am Gedenktag Allerseelen in dankbarer Erinnerung an Herrn Dr. Alexander Arnot, von 1989 bis 1993 deutscher Botschafter in Ungarn, der am 15. August 2023 im Alter von 92 Jahren in Berlin verstarb. Wir sind Gott dankbar, dass er in diesen Jahren als aktives Mitglied unsere Gemeinde in vieler Hinsicht bereichert und gefördert hat. Aufgrund der Wende in Ungarn war er der Auffassung, Deutschland müsse eine offizielle Auslandsgemeinde in Budapest einrichten. Er hat mit seinem Gewicht als Botschafter in Hannover durchgesetzt, dass der Vertrag zwischen beiden Kirchen zustande kam und die EKD uns unter ihre Auslandsgemeinden aufnahm. Als er Botschafter in Kiew wurde (wo er den gleichen segensreichen Einsatz für die dort lebenden oder arbeitenden Deutschsprachigen fortsetzte), war sein Vertreter in Budapest und später ein deutscher Botschafter in Afrika, Herr Dr. Rolf-Rüdiger Zirpel, Mitglied unseres Kirchgemeinderates.
Nach diesem Aufbruch in die Selbstständigkeit waren die vielen aktiven oder in unser Gemeinde sehr aktiv werdenden ’Gastarbeiter’ nicht nur aus Deutschland, die in Budapest lebten, eine große Bereicherung in unserem Gemeindeleben – und sind es auch bis heute geblieben! – Auslandsgemeinden sind etwas Besonderes. Für alle, die vorübergehend, für begrenzte Zeit mit oder ohne Familie im Ausland leben müssen und sich anfangs noch fremd und sprachlich isoliert fühlen, sind sie die Verbindung zur Heimat, ja selbst ein Stück Heimat, von dem aus sie sich sprachlich, geistlich, kulturell und gesellschaftlich in die fremde Umwelt eingewöhnen können. Die Seelsorge hat hier auch eine andere Bedeutung. In dieser speziellen Lage haben wir uns von Anfang an als eine ökumenisch geprägte Weggemeinschaft Gleichgesinnter im Glauben empfunden, offen für alle Interessierten gleich welcher Nationalität, Muttersprache und Tradition. Die Zusammensetzung unserer Gemeinde ändert sich allgemein leider schneller, als uns lieb sein kann, immer wieder müssen wir uns liebgewonnene Menschen verabschieden. Aber dadurch haben wir auch eine bleibende ’Wolke’ von früheren Mitgliedern, die sich mit Liebe an die gemeinsamen Jahre mit uns erinnern, für uns beten und uns unterstützen.
Dankbar sind wir unseren PfarrerInnen, die in den 30 Jahren unser Gemeindeleben nicht nur organisierten, sondern auch die geistlichen Akzente setzten: Pál Gémes (1992−1994, Beate Brauckhoff (1994), Dietrich Tiggemann (1994−2000), Andreas Wellmer (2000−2009), Johannes Erlbruch (2009−2018) und seit 2018 Barbara Lötzsch.
Unsere Leitlinien entsprechen unserer Größe und Möglichkeiten. Das dort Festgeschriebene versuchen wir auf die würdigste Weise zu erfüllen. Im Zentrum steht immer noch wie in den langen ’Vorgründungszeiten’ das für uns Allerwichtigste, der Abendmahlsgottesdienst an allen Sonn- und Festtagen mit fallweisem Kindergottesdienst und einmal im Monat mit erweitertem Familiengottesdienst sowie jährlichen Schulanfangsgottesdiensten und die Begrüßung von Ankömmlingen und die traurige Verabschiedung der Fortziehenden. Im Kreis um ihn gibt es Konfirmationsvorbereitung, Frauen- und Männergesprächskreis, Bibelstunde, Chor- und Orchesterproben, wir beteiligen uns an von anderen Institutionen verantworteten Sozialprojekten für Obdachlose und ihre geistliche Betreuung wie auch an den heute so wichtigen Hilfen für Flüchtlinge, vor allem aus der Ukraine. In Zusammenarbeit mit der deutschen Botschaft in Budapest findet seit über 20 Jahren auch ein Besuchsdienst deutschsprachiger Häftlinge in ungarischen Haftanstalten statt. Gemeinsam mit der deutschsprachigen katholischen Elisabethgemeinde veranstalten wir seit eh und je ein Martinsspiel mit Laternenumzug, das Krippenspiel zur Weihnacht, und seit dem Kriegsbeginn beten wir regelmäßig zusammen für den Frieden.
Mit menschlichen Maßstäben befindet sich eine Dreißigjährige in der Vollkraft ihres Wirkens. Leider ist dies bei unserer Gemeinde – wie wir seit kurzem erfahren mussten – nicht der Fall. Zwar will uns keine Norne unseren Lebensfaden abschneiden, doch werden wir in naher Zukunft, das heißt, ab Ende Sommer 2024, nicht mehr eine von der EKD getragene Auslandsgemeinde sein können. Unsere Pfarrerin Barbara Lötzsch muss uns verlassen, und danach wird uns die Kirchenleitung in Hannover für ein dreiviertel Jahr einen Ruheständler senden. Die weitere Zukunft ist offen: Der Kirchgemeinderat ist mit der ganzen Gemeinde und vielen der seit langem mit uns Verbundenen guter Hoffnung, dass der Herr nach dieser Einschränkung unserer Gemeinde neue Ideen, neue Möglichkeiten schenkt und uns nach seinem Wohlgefallen leiten wird. Er kann auch auf krummen Linien gerade schreiben. Die Zukunft liegt auch weiter für die Einzelnen sowie für die Gemeinde wie bisher in seinen Händen, denn wir wissen: „Du bist der Gott, der mich/uns sieht”. In diesem Sinne begehen wir den dreißigsten Jahrestag unseres Gemeindebestehens.
Albrecht Friedrich, Gemeindeglied seit 1975