Albrecht FriedrichGemeindegesichter

Pfarrer Albrecht Friedrich – oder: vom „Kapitalistenkind“ zum „Urgestein“

Bereits seit mehreren Jahren können Sie hier die Rubrik „Gemeindegesichter“ finden. Nun wird es wirklich höchste Zeit, dass wir uns einmal mit Herrn Pfarrer Albrecht Friedrich beschäftigen, zweifellos einem der „Urgesteine“ unserer Gemeinde. Ein (virtuelles) Interview.

Herr Friedrich, haben Sie manchmal Heimweh? 
Eigentlich nicht. Ich bin ja nicht geflohen wie so viele Menschen heute, sondern freiwillig nach Ungarn zu meiner Ehefrau übergesiedelt. Und wir sind jedes Jahr in meine alte Heimat gefahren, ins Saaletal um Naumburg, eine  wunderschöne liebliche Gegend mit sanften Hügeln, berühmten Kunstdenkmälern − darunter der ehemaligen Fürstenschule Schulpforte (die ich und alle meine Geschwister und ein Jahr lang sogar mein Sohn besucht haben). Diese Gegend hat gute Weine, sie ist das nördlichste Weingebiet in Deutschland.

Könnten Sie sich vorstellen, in einer anderen Stadt als Budapest zu leben? 
Selbstverständlich, zumal wir am Anfang unserer Ehe für ein paar Jahre in Székesfehérvár wohnten und uns in der ehemaligen ungarischen Krönungsstadt sehr wohl gefühlt haben. Genau genommen, leben wir seit fast sechs Jahren auch nicht mehr in Budapest, sondern im benachbarten Donauschwabendorf Solymár. Dieser Wohnortwechsel war wegen der Heirat unseres Sohnes fällig geworden, und wir leben als „Groß“familie in einem umgestalteten alten Schwabenhaus.  Aber Budapest ist nahe, und ich genieße diese lebendige Stadt mit ihren vielen Gesichtern, die ich noch gar nicht alle kenne.

Bitte erzählen Sie uns etwas über ihr Leben in der DDR.  
Meine Eltern sind 1943 mit ihren damals fünf (später dann sechs) Kindern wegen der Bombengefahr aus Berlin zum Großvater ins ruhige Saaletal gezogen. Dort verlebten wir – mit unseren vier Vettern, die aus dem gleichen Grunde zum Großvater zogen − eine ungetrübte Kindheit, wenn auch ohne die Väter, die in den Krieg mussten. Mein Vater, der in der letzten Kriegswoche gefallen ist, liegt auf dem Soldatenfriedhof Halbe bei Berlin. So blieb meine Mutter mit den sechs Kindern bei den Großeltern in Bad Kösen. Solange wir zu Hause lebten, waren wir auch im Fahrgast-Schiffsbetrieb des Großvaters beschäftigt, bis meine Mutter den Betrieb 1972 an die Stadt verkaufte, weil sie ihn unter DDR-Verhältnissen nicht mehr halten konnte. Wir „Kapitalistenkinder“ haben natürlich keinen Studienplatz bekommen (die drei älteren Geschwister waren vor dem Mauerbau deswegen bereits zum westlichen Onkel „übergesiedelt“). Ich lernte Schriftsetzer, musste dann zur Armee, wo mir klar wurde, dass der Sinn des Lebens weder im Buchstabensatz noch beim für mich idiotischen Militär lag. In dieser Zeit habe ich mich zum Theologiestudium entschlossen. Ich habe in Rostock und Berlin studiert, musste dann mein Studium für ein Jahr unterbrechen, um zu Hause meiner Mutter ein Motorboot reparieren zu helfen. Nach der Ordination arbeitete ich anderthalb Jahre im Kirchenkreis Haldensleben, ließ mich suspendieren und kam nach Ungarn, wo ich erstmals 1969 zu Besuch bei meiner späteren Frau gewesen war.

Mitte der 1970er Jahre siedelten Sie nach Ungarn über. Wie war das damals? 
Die Jahre ab 1974 waren für einen DDR-Bürger weit weniger aufregend oder unerfreulich als vorher zu Hause. Man fühlte sich viel freier, weniger belästigt, die ganze Atmosphäre war freundlicher. Noch vor meiner Übersiedlung fragte ich beim damaligen Bischof an, ob ich in der Kirche tätig werden könne, aber es ging nicht. Als Ursache wurden genannt, ein ausländischer Staatsbürger könne nicht den Eid auf die ungarische Verfassung ablegen, den man jedoch zur Anstellung brauche – und meine nicht vorhandenen ungarischen Sprachkenntnisse. Durch Vermittlung freundlicher Menschen kam ich dann zum Akademie-Verlag, wo man meinte, man könne einen Theologen trotz fehlenden Germanistikstudiums recht gut brauchen. Dort beschäftigte ich mich 25 Jahre lang mit ins Deutsche übersetzten Büchern geisteswissenschaftlicher Fächer. Oft – wenn auch nicht immer − waren diese Übersetzungen eine Art staatlicher Würdigung oder Belohnung der Arbeit verdienstvoller Wissenschaftler, verdient oder nicht. Mit staatlichen Institutionen hatte ich kaum zu tun, nur bat mich die Ausländerbehörde bei meiner Anmeldung, mich auf keinen Fall scheiden zu lassen, das mache ihnen wieder (zu) viel Arbeit!
Und auch zur Burggemeinde kam ich durch die Hilfe eines katholischen Geistlichen. Einer von den vielen ökumenischen Momenten, die in unserer Familie eine bedeutende Rolle spielen, da meine Frau katholisch ist. Wir selbst und auch unsere Kinder wurden ökumenisch getraut (mit wechselnden Akzenten der einen oder anderen Konfession) und versuchen diesen sogenannten Glaubensunterschied wie zwei Dialekte einer Sprache zu betrachten.

Sie haben die Wende in ihrer alten Heimat von Budapest aus erlebt...
Richtig. Schon im Jahr 1988 munkelte man in der DDR, Ungarn „werde zugemacht“, man bekomme also künftig kein Visum mehr. Daraufhin nutzten alle Jugendlichen aus Familie und Bekanntschaft die „letzte Gelegenheit“, ins „freie“ Ungarn zu kommen. So quartierten sich im Juli/August in unserer 54 m2-Wohnung zehn Jugendliche ein, während wir in der DDR waren. In der Gemeinde gab es Gespräche mit DDR-Jugendlichen aus Sachsen, die wegen ihrer Umweltschutz-Aktivitäten (strahlender Uran-Abraum wurde fürs Unterbett beim Straßenbau verwendet) zu Hause verfolgt wurden und nach Österreich flüchten wollten. An den späteren Flüchtlingsgottesdiensten in der Zugligeter Kirche, die Pfarrer Zsigmondy hielt, war ich dann nicht beteiligt. Wir haben gebetet, dass die Wagemutigen auch heil über die Grenze kommen. Man hatte ja gehört, dass es Todesfälle von Kindern beim Durchschwimmen der Donau gegeben habe. Am Tage des Mauerfalles erfasste dann alle ungeheure Freude und Dankbarkeit, dass das Ende der DDR so friedlich „mit den Füßen“ erreicht worden war. Man konnte das Ganze noch gar nicht richtig fassen, aber war glücklich, dass die dunkle Wolke der Trennung nicht mehr über Deutschland hing. Im Jahr darauf waren wir wieder in Bad Kösen und sahen zu unserer Verblüffung, dass die Leute nicht mehr die preisgestützten Eier aus den Schrebergärten des Ortes im Konsum kauften, sondern die teurere Massenware aus Holland! Es war Währungswechsel, und von einem Tag zum anderen verschwanden sämtliche DDR-Waren aus den Läden und landeten auf Lastwagen in der Müllkippe. Unglaublich, aber wahr! – Und heute werden DDR-Erzeugnisse massenweise nachproduziert, um die Nostalgie zu befriedigen!

Sie sind noch immer beruflich tätig. Was machen Sie konkret? 
Als nach der Wende der Akademie-Verlag verkauft und alle Lektoren entlassen wurden, habe ich mich als Übersetzer selbstständig gemacht und lebte davon, dass mehrere von meinen früheren Verlagsautoren ihre Bücher von mir übersetzen ließen. Leider werden sie ebenso älter wie ich auch, und pensionierte Wissenschaftler bekommen heutzutage, wenn sie zufälligerweise Geisteswissenschaften pflegen, keine staatlichen Gelder für ihre Rentnerarbeit mehr. So kommt auch bei mir kaum noch was an. Da heute sowieso alles auf Englisch veröffentlicht wird, bleibt für Deutsch außer Archäologie, Geschichte, Ethnographie und Musikwissenschaft kaum noch etwas übrig.

Zur Arbeit gehört der Urlaub. Wohin zieht es Sie dann vorzugsweise?
Außer unseren jährlichen Familientreffen nach Deutschland mache ich seit vielen Jahren jährlich einen einmonatigen „Arbeitsurlaub“ im Salzburger Land. Die evangelischen Urlaubergottesdienste werden sonntäglich meistens in zwei (katholischen) Kirchen gehalten, wobei die Orte mit den Jahren oft wechselten. Aber auch das scheint − wie ich selbst − ein Auslaufprogramm zu sein, weil uns die „Zielgruppe“, die Touristen, abhanden gekommen ist (die Dorfgemeinden sind überwiegend katholisch). Jahrelang hatten wir evangelische Gemeindegruppen mit vielen Kindern zu betreuen, wo auch außergottesdienstliches Interesse bestand: Man konnte die Vertreibungsgeschichte der evangelischen Salzburger erzählen, Liederabende leiten, Diavorträge über Siebenbürgische Kirchenburgen halten oder einen Ungarnbericht geben. Heutzutage freut man sich, wenn fünf bis sechs Leute die Feier des Sonntagsgottesdienstes für wichtig halten. Das Problem ist − glaube ich − allgemein bekannt. Ich halte mich – verstärkt durch meine Erinnerungen an die Zahlen der Gottesdienstbesucher unserer Gemeinde in den 1970er Jahren – an die Verheißung: wo zwei oder drei in meinem Namen … − Zahlen sind wichtig, aber nicht alles. Das mit dem Auslaufmodell ist nicht so gemeint wie beim iPhone oder Mobil-/Okostelefon: Ich hoffe sehr, dass Gott mir die nötige Kraft für die Mitarbeit in der Gemeinde möglichst lange schenkt und ich noch viele neue Gemeindeglieder kennen- und schätzen lernen werde.

Albrecht Friedrich - in seinem 40. Jahr in Ungarn
(Ausgabe November/Dezember 2014)